Zu schnell gerichtet

In Lettland ist das Reisen zwischen Städten sehr angenehm. Es fahren Reisebusse, oft gibt es Wi-Fi. Das einzige unangenehme könnten die Mitfahrer sein. Und das ist bekanntlich nicht selten der Fall.

Ich steige ein. Ich setze mich neben einer Frau. Wir fahren und ich bemerke, dass sie Videos auf Facebook anschaut - mit Lautstärke an! Ohne Kopfhörer! Unglaublich, dachte ich. So viel Anstand muss man haben, dass man im Bus die Kopfhörer benutzt. Ich weiß nicht mehr wie es in Bochum war, aber in Lettland macht man so etwas nicht.

In dem Video geht es darum, wie man einen Kuchen backt. Oder etwas über Make-Up. Nicht übel, aber will ich es mir anhören? Ein Erwachsener sollte sich in der Öffentlichkeit benehmen können.. Ich richte schnell.

Plötzlich klingelt ihr Handy. Ein Videoanruf? Ich habe noch nie gesehen dass jemand diese Funktion benutzen würde. Sie geht ran. Und dann verstehe ich. Sie ist taubstumm. Sie benutzt die Zeichensprache und das Handy gibt ihr endlich die Möglichkeit Menschen in der Ferne zu erreichen. Und sie weiß wahrscheinlich gar nicht, dass die Facebook-Videos für andere hörbar sind!

Ich habe zu schnell gerichtet. Es passiert uns wahrscheinlich öfter als wir denken. Wir kennen die Umstände nicht und denken zu schnell negativ.
In der Psychologie gibt es sogar eine Bezeichnung dafür - Attributionsfehler. Kurz erklärt - wenn andere Mist bauen, sind sie persönlich daran Schuld (weil sie böse, faul, ungezogen sind). Wenn ICH Mist baue, Schuld sind die Umstände (ein schlechter Tag, das Wetter, die Kopfschmerzen, die Situation insgesamt).
Was will ich damit sagen? Ich war überrascht, wie schnell ich schlechten Gedanken verfalle. Ich war überrascht, wie sehr die Realität von dem unterscheiden kann, was ich mir denke. Da ich nicht alle Umstände kenne, habe ich kein Recht zu richten. Und auch wenn ich alle Umstände kennen würde - dann auch nicht. Das ist Gottes Job, und er ist unglaublich barmherzig.


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